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Impuls zum 26. September 2021

Zum 26. Sonntag im Jahreskreis

Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster

Der Wahlhirtenbrief des Jakobus
„Ihr aber, ihr Reichen, weint nur und klagt über das Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum verfault, und eure Kleider sind von Motten zerfressen, euer Gold und Silber verrostet. Ihr Rost wird als Zeuge gegen euch auftreten und euer Fleisch fressen wie Feuer. Noch in den letzten Tagen habt ihr Schätze gesammelt. Siehe, der Lohn der Arbeiter, die eure Felder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit zum Himmel; die Klagerufe derer, die eure Ernte eingebracht haben, sind bis zu den Ohren des Herrn Zebaoth gedrungen. Ihr habt auf Erden geschwelgt und geprasst und noch am Schlachttag habt ihr eure Herzen gemästet. Verurteilt und umgebracht habt ihr den Gerechten, er aber leistete euch keinen Widerstand.“
(Jak 5,1-6)

Nein, ich habe mir diesen Zusammenhang nicht ausgesucht. Ich habe ihn jetzt erst festgestellt: Der 26. Sonntag im Jahreskreis fällt auf den 26.9. und an dem Tag ist Bundestagswahl. So wird der Text aus dem Jakobusbrief zum Wahlhirtenbrief. Wen kann man dann noch wählen?

Jetzt lautet die erste Reaktion angesichts der verschlafenen Katastrophe in Afghanistan von den „C“-Politiker*innen: Ihr Armen, bleibt weg von uns! „Nie wieder 2015“, wo Deutschland für eine kurze Zeit seine Menschenfreundlichkeit zeigen konnte und durfte. Also: keine Sorge für die bedrohten Menschen, sondern Wahlkampf mit der Angst vor den Fremden. Die Flüchtlingspolitik schließt die Flüchtenden lieber zur Abschreckung in menschenunwürdige Lager (Moria und anderswo) ein oder sorgt dafür, dass libysche Einsatzkräfte sie zurück in die Konzentrationsläger bringen, wo sie brutaler Gewalt, Vergewaltigung und Sklavenhandel ausgesetzt sind. Die See-Rettung wird behindert und kriminalisiert. Die Flüchtenden sollen merken, dass sie nicht erwünscht sind. Die „Werte Europas“ werden verteidigt, indem man sie mit Füßen tritt und zerstört. Welch eine „christlich“-orientierte Politik!

Unsere Erde geht buchstäblich baden, nicht nur in Bangladesch, in der Türkei, die kleinen Inseln, die überschwemmt werden wie die Großstädte am Meeresrand, sondern einfach auch hier bei uns im beschaulichen Ahrtal! Rings um das Mittelmeer, in Russland, USA und Kanada brennt die Erde, Trockenheit oder Stürme machen den Armen das Leben schwer. Das Weltklima steht kurz vor dem „point of no return“. Aber Windkraft oder Strommasten: bitte nicht vor unserer Haustüre. Nun, alle wollen was für das Klima tun, das kostet, aber bitte nicht durch Steuererhöhung für die Reichen, heißt es bei manchen Parteien. 

Und wie ist es mit den gerechten Löhnen, die Jakobus anmahnt? Das Lieferkettengesetz, von einem CSU-Minister forciert, wurde von den eigenen CDU/CSU Leuten so entkernt, dass weiterhin die Reichen, also wir, den Arbeiter*innen, die die Baumwolle pflücken, und den Näher*innen, die Kleider nähen, den Lohn vorenthalten, der sie menschenwürdig leben ließe. Wie sieht es bei uns in Deutschland aus mit den Niedriglöhnen und den „Fremdarbeiter*innen“ in der Fleischindustrie und bei der Ernte? Die Corona-Epidemie hat viele Reiche noch reicher gemacht und viele Arme noch ärmer, hier bei uns und weltweit. Zugleich sind die Schulden gewachsen, vor allem in den ohnehin schon überschuldeten Ländern des Südens, die auch bei den Impfstoffen benachteiligt werden: doppeltes Elend!

Nein, es bleibt dabei: die wirtschaftlichen Strukturen, in denen wir leben, sorgen dafür, dass die Reichen immer reicher werden auf Kosten der Armen, die immer ärmer werden. So hat es schon die lateinamerikanische Bischofskonferenz 1972 in Puebla gesagt. Dieses „auf Kosten“ hört man hier nicht gerne. Die Armen sollen sich eben mehr anstrengen, dann schaffen sie es schon. Wir leisten ja Entwicklungshilfe. Dabei ist diese Hilfe nur ein Bruchteil dessen, was die Industrievölker diesen Völkern Jahrhundertelang in kolonialer Abhängigkeit geraubt haben. 

Noch anderes gehört hierher: wie die Kriege die Menschen gefährden und die Ressourcen verbrauchen, die Menschen zum Leben brauchten; die Waffenexporte, die anderswo die Gewalt entfachen, Hauptsache „wir“ haben schon daran verdient; die Massentierhaltung, die die Schöpfung missachtet und statt auf die Wälder auf weltweite Sojaproduktion setzt. Ich könnte diese Litanei noch fortsetzen. Und dann bebt auch noch die Erde in Haiti. Dafür können die Menschen nichts, aber wieder sind die Armen in ihren Hütten die ersten Opfer. 

Ich muss das einfach mal loswerden. Das weckt meinen Zorn. Jakobus ermutigt mich dazu. Dabei gehöre ich auch zu den Reichen mit Haus und Garten und regelmäßigem Geld auf dem Konto, mehr als ich zum Leben brauche. Auch ich bin Nutznießer der ungerechten Wirtschaftsstrukturen. Für manches, was ich brauche, würde ich gerne mehr bezahlen, wenn es zu den Menschen am Anfang der Lieferketten durchkäme. Ich kann spenden, Petitionen und Resolutionen unterschreiben, mich an der öffentlichen Meinungsbildung beteiligen, ich kann wählen. Aber wen und welche Partei? Ich würde mir gerne das Gute aus mehreren Parteien zusammensuchen, aber diese Partei gibt es nicht. So kann ich nicht die beste Partei wählen, sondern wohl nur das geringste Übel. 

Dabei will ich keine Untergangsstimmung verbreiten. Das Problem ist die Menschheitsgeschichte, die ganze Weltgeschichte: Der Stärkere setzt sich durch. Das war offenbar auch in der Zeit des Jakobus so, und vorher in der Zeit der Propheten. Doch wenn wir diese Geschichte anschauen, gibt es auch die andere Seite:  Menschen setzen sich aufgrund eigener Entscheidung für das Leben der Armen ein, heute in Afghanistan, im Jemen, im Südsudan, in vielen Krisengebieten unserer Welt. Pro Asyl, Amnesty, Caritas international, medico international, Ärzte ohne Grenzen, das Weltflüchtlingswerk, die Welthungerhilfe, Misereor, Adveniat und Brot für die Welt, auch pax christi, viele andere Gruppen, auch kleine Initiativen vor Ort, die sich hier und weltweit für die Menschen, für andere Strukturen des Miteinanders, einsetzen, oft mit dem Risiko des eigenen Lebens. Da kann ich nur staunen und danken! 

Das ist für mich eine der Grundfragen an unsere Gesellschaft und Politik: Es gibt so viele gute Initiativen, christlich motiviert oder nicht, in denen sich viele Menschen caritativ und gesellschaftspolitisch für andere einsetzen, für das menschenwürdige Leben aller, aber sie finden kaum ein Echo in der großen Politik, die oft gerade die Strukturen bedient, die das Unrecht fördern. Ein Beispiel: Unser Brasilienkreis unterstützt den Rechtsbeistand für Kleinbauern in Brasilien gegen die Großgrundbesitzer und Konzerne, die den Kleinen ihr Land und damit ihre Lebensgrundlage durch Geld, Korruption und Gewalt wegnehmen, damit die Großen verdienen. Diese Großen werden aber von der offiziellen Politik in Brasilien und in Deutschland hofiert und gefördert, so auch durch das geplante Mercosur-Abkommen.

Mir helfen zur Orientierung die zwei anderen Texte des heutigen Sonntags: In der ersten Lesung (Num 11,25-29) wird davon berichtet, dass Moses mit einigen Auserwählten von Gott den Geist empfing und sie „in prophetische Begeisterung“ versetzte. Doch auch zwei ungebetene Gäste im Lager empfangen den Geist Gottes. „Das darf doch nicht sein!“ sagen die Auserwählten 70 Männer. Josua als ihr Sprecher: „Mose, mein Herr, hindere sie daran!“ Mose aber sagte: „Willst du dich über mich ereifern? Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte.“  So ist Gott: Es geht ihm nicht nur um die Auserwählten, sondern auch um die anderen, die da draußen, um alle. Wir dürfen uns freuen über jede und jeden, die für andere da sind, wir gehören zusammen, auch wenn manches, auch unsere Religion, uns trennt. Gottes Geist kennt keine Grenzen.

Im Evangelium wird erzählt (Mk 9,38-43), wie die Jünger verärgert darüber sind, dass ein Fremder in Jesu Namen Dämonen austreibt und wollen das verhindern. Jesu Wort: „Hindert ihn nicht!... Denn wer nicht gegen uns ist, ist für uns!“ Ein Wort von großer Weite! Später staunten Petrus und die ersten jüdischen Gemeinden, dass Gott seinen Geist auch über die Heiden ausgießt. Nach heftigem Streit fanden sie die Größe, sich darüber zu freuen. Aus dem Staunen darüber wuchs der weltweite Glaube. Wann lernen wir endlich die Offenheit Jesu, seine Weite, seine Kraft? Wo immer Gutes geschieht, da ist es im Sinne Jesu, da gehören wir zu den anderen und sie zu uns. Keine Berührungsängste, nicht im katholischen Milieu, nicht in der eigenen Gruppe oder Gemeinde bleiben. Gott findet mehr Wege als wir. Er kennt keine Grenzen, vor allem keine, die wir Menschen ziehen zwischen uns und den anderen, den Fremden. Wenn das alle christlichen Kirchen lernen würden, dann wäre das ein großer Beitrag zum Frieden.

„Löscht den Geist nicht aus!... Prüfet alles, das Gute behaltet.“ schreibt Paulus (1 Thes, 5,19.21). Hört auf die anderen, auf die Fremdprophetie, auf das, was die anderen euch voraushaben.

Da bin ich wieder bei den Parteien, die sich zur Wahl stellen. Wenn sie das doch begreifen würden: Es ist nicht etwas schlecht oder falsch, weil es aus anderen Parteien vorgeschlagen wird. Es ist nicht etwas schlecht oder falsch, weil es nur von einer Minderheit vertreten wird. Steuervorschläge von den Linken, die die Reichen zur Kasse bitten, sind nicht schlecht oder falsch, weil sie von den Linken kommen. Jakobus würde das vermutlich unterstützen, da die Reichen so etwas mehr der Gerechtigkeit unter den Menschen dienen können. Es ist immer etwas „gemeinnützlich“, wenn es um das Leben von Menschen geht. 

Doch auch unsere Kirche muss lernen, dass es den Geist Gottes nicht nur von oben herab in einem hierarchischen Gefälle gibt, sondern unten, überall, ohne Grenzen. Glauben setzt eine hohe Sensibilität voraus, den Geist Gottes zu erspüren, wo immer er weht. Er lässt sich von keiner Struktur einfangen.

Beten wir für die Wähler*innen und die Gewählten, dass sie aus dem Geist der Menschenfreundlichkeit und der Gerechtigkeit leben und handeln. das heißt dem Frieden für möglichst alle, für die Armen zuerst, dienen. Dann handeln sie im Geist des Gottes, der uns in Jesus nahegekommen ist, ob sie selbst an diesen Gott glauben oder nicht. Wir gehören dann zusammen. Die Aufgabe ist ohne Grenzen, jenseits aller Wahlprogramme.   

 

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